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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 06.06.2006:

Deutsche Bildung auf dem Prüfstand

"Bildung im Lebenslauf" - erste wissenschaftlich fundierte Synopse der Bildungssituation in Vorschule, Schule, Hochschule und Weiterbildung
Das Bild zum Artikel
Cover des ersten gemeinsamen Bildungsberichts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Kultusministerkonferenz
Quelle: Bericht "Bildung in Deutschland"

"Wir wollen auf den Prüfstand", sagte die hessische Kultusministerin Karin Wolff im Jahr 2003 anlässlich der Veröffentlichung des ersten Bildungsberichts der Kultusministerkonferenz. Drei Jahre später stehen nicht nur die allgemein bildenden Schulen auf dem Prüfstand, sondern das gesamte Bildungssystem in Deutschland, von den Kindergärten über Schulen, Hochschulen bis hin zu Einrichtungen der Weiterbildung. Die empirische fundierte Berichterstattung bringt den "Krankenstand" im deutschen Bildungssystem ans Licht. Bildung im Lebenslauf ist der rote Faden, der sich durch den Bildungsbericht 2006 zieht. 

Günstig ist der Befund, wonach die "Bildungsbeteiligung" in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen hat, sowohl am "Fuß", dem Vorschulbereich, wie am "Kopf", dem tertiären Bereich der Bildung, dem Campus mit seinen Hochschulen. Der schulische Bildungsstand der Bevölkerung ist  dem Bildungsbericht zufolge deutlich gestiegen. Fast 90 Prozent der Kinder nehmen an Angeboten zur frühkindlichen Bildung und Betreuung teil. Die Bedeutung frühkindlicher Erziehung wird von den Eltern zunehmend erkannt, allerdings eher von Eltern mit höherem Bildungsgrad: Eltern mit niedrigerer Schulbildung meldeten die Kinder "später und seltener" im Kindergarten an als Eltern mit höherer Schulbildung. Der Bildungsbericht bestätigt zudem die Beobachtung, dass ausländische Eltern ihre Kinder seltener zum Kindergarten anmelden. 

Größte Herausforderung - Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Die Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist der Schwerpunkt des diesjährigen Bildungsberichts. Dem Bildungsbericht zufolge ist der Anteil dieser Schülerinnen und Schüler fast doppelt so hoch (15,3 Prozent) wie der in der amtlichen Statistik erfasste Ausländeranteil. Mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen bis 25 Jahren weist einen Migrationshintergrund auf. Übersteigt der Anteil von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund  die 75 Prozent-Marke in einer Schulklasse, könnte sich das ungünstig auf das Lernklima und die Leistungen auswirken.  

Dass die Übergänge zwischen Grundschule und weiterführenden Schulen kritisch sind, ist auch seit der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) hinlänglich bekannt. Die Autoren des Bildungsberichts erachten sie als eine der "entscheidenden Gelenkstellen für Bildungskarrieren". Für Kinder unterer sozialer Schichten ist es selbst bei gleich guten schulischen Leistungen besonders schwer, den Sprung in die höhere Schulform zu schaffen. Auch die Übergänge innerhalb der Sekundarstufe I, also die Durchlässigkeit zwischen Haupt-, Realschulen oder Gymnasien sind problematisch. "Insbesondere 15-Jährige mit türkischem Migrationshintergrund und Aussiedler aus der Sowjetunion besuchen am häufigsten die Hauptschule", so der Bildungsbericht. Einheimische Jugendliche schafften es viel leichter auf Schulen mit höherer Schulbildung zu kommen und sich dort zu halten.  

"Während in den alten Ländern mehr Abstiege als Aufstiege zu verzeichnen sind, halten sich Aufwärts- und Abwärtswechsel in den neuen Ländern nahezu die Waage", heißt es im nationalen Bildungsbericht von 2006. Heranwachsende aus unteren sozialen Schichten, vor allem solche mit Migrationshintergrund, hätten es nicht nur schwerer, auf höher qualifizierende Schularten zu kommen. Es gelinge ihnen auch seltener, sich dort zu halten. Hoffnungen ruhen in diesem Zusammenhang auf dem Ausbau von Ganztagsschulen in allen Bundesländern, deren Anteil von 2002 bis 2004 um 38 Prozent gestiegen ist.  

Am meisten Wirbel im Vorfeld der Veröffentlichung des Bildungsberichts machte die Meldung, die die "Welt" vorab am 30. Mai 2006 kolportierte, wonach die Lage für Migrantenkinder auf dem Arbeitsmarkt "immer schlechter" werde. In den vergangenen zehn Jahren von 1994 bis 2004 sei in den alten Ländern der Anteil der ausländischen Jugendlichen im dualen System der Berufsausbildung von 9,4 auf 5,6 Prozent zurückgegangen. Selbst das bewährte duale System weist mithin Schwächen auf.

"Volkswirtschaften wachsen auch durch Bildung"
Der neue "Atlas" der deutschen Bildungslandschaft bestätigt die angespannte Lage an den deutschen Hochschulen. Immer mehr junge Menschen wollen studieren, doch eine "durchgreifende Entlastung der Hochschulen vom Nachfrageüberdruck" sei ausgeblieben und zeichne sich auch für die nächsten 15 Jahre nicht ab". Seit den 1990er Jahren strömen verstärkt Frauen an die Hochschulen und sie schneiden dort auch besonders gut ab. Hingegen weisen nur die wenigsten Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen Schulabschluss auf, der sie zum Studium berechtigte.  

Die Großwetterlage ist auch bei der Weiterbildung nicht günstig. Seit 1997 sei die Beteiligung der Menschen an Weiterbildungen "merklich gesunken". Dieser Rückgang korrespondiert mit der Finanzierungsmüdigkeit des Staates und der Wirtschaft. "Deutschland rangiert innerhalb der Weiterbildungsbeteiligung innerhalb der 15 EU-Staaten eher am unteren Ende", so der Bildungsbericht. 

Am Ende macht der Bericht Mut: Schulische und berufliche Bildung hätten, würde sie in Anspruch genommen, zahlreiche positive Wirkungen auf den Einzelnen wie auf die Gesellschaft. Menschen mit reger Bildungsbeteiligung lebten aktiver, gesünder und nähmen auch mehr am politischen Geschehen teil. Auch für die Wirtschaft mache sich Bildung bezahlt. "Ergebnisse der neueren ökonomischen Forschung zeigen, dass Bildungsinvestitionen nicht nur positiv auf Wachstum und Innovationsfähigkeit wirken, sondern sich auch sozialpolitisch auszahlen", so der Bericht. "Die Therapie muss jetzt die Politik machen", sagt die Ute Erdsieck-Rave, amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz.  

Indikatoren im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit
Die meisten der präsentierten Daten sind nicht neu, neu aber ist die Zusammenschau wissenschaftlich gültiger Befunde über das deutsche Bildungswesen. Die fortan alle zwei Jahre erscheinende Synopse ist wichtig, um eine "fundierte Basis" für die öffentliche Debatte bereitzuhalten. Nun interessiert sich die Öffentlichkeit, allen voran die Eltern, weniger für geschichtliche Entwicklungen in der Pädagogik als für die Bedeutung, die bildungspolitische Entscheidungen für ihr Leben haben. Der Nationale Bildungsbericht, der gemeinsam von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegeben wurde, ist eine Konsequenz aus der PISA-Studie. 

Die Beobachtung der bundesweiten Bildungsentwicklung anhand wiederkehrender Merkmale (Indikatoren) ist ein bildungspolitisches Thema ersten Ranges, daher firmiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als Auftraggeber an der Seite der KMK. Mit dem ersten umfassenden Bildungsbericht schlagen die Auftraggeber ein neues Kapitel in der Geschichte der Pädagogik auf: Zum ersten Mal liegt ein auf empirischer Basis erhobener Bildungsbericht vor, der einen Bogen schlägt über die "Bildung im Lebenslauf von der frühkindlichen Bildung über die allgemein bildende Schule, die berufliche Bildung und die Hochschule bis hin zur Weiterbildung im Erwachsenenalter". Aus dem Schulreport von 2003 ist ein alle Bildungseinrichtungen übergreifender Report geworden. 

Die Bildung steht nicht erst seit PISA, also seit dem Jahr 2000 öffentlich auf dem Prüfstand. Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth von der Humboldt-Univerität Berlin verweist auf die gewachsene gesellschaftliche Bedeutung des Themas, seit die Bildungsbeteiligung durch die Rückkehr von Flüchtlingen in den 1950er Jahren zunahm. Seit dieser Zeit habe es die Bildung immer wieder auf der Titelseite des "Spiegel" gebracht. Der Bildungsbericht ist nach Heinz-Elmar Tenorth zwar auch eine Folge der PISA-Befunde. Doch schon in den neunziger Jahren setzte die "empirische Wende" in Deutschland ein. Im Unterschied zu Deutschland haben sich Länder wie die USA, Kanada, England, Niederlande und Frankreich zum Teil Jahrzehnte früher auf den Weg zur empirisch untermauerten Bildungsberichterstattung gemacht.  

Das öffentlich Dargestellte deckt sich nicht mit dem Gewussten
Grundlage des Bildungsberichts und wesentliche Bezugspunkte sind "Indikatoren", also "Anzeiger". Indikatoren sind "Kernsätze an Beobachtungsgrößen", die im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft herausgearbeitet werden, so Heinz-Elmar Tenorth . 

Einerseits sollen die Indikatoren wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, andererseits sind Aspekte wie Verständlichkeit und Handlungsrelevanz wichtige Kriterien bei der Etablierung der Indikatoren, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Isabell von Ackeren von der Universität Duisburg-Essen. Die Indikatoren stehen im Zusammenhang von allgemeinen Einflüssen auf Bildung wie Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftliches Wachstum, öffentliche Haushalte oder Globalisierung.   

Das öffentlich Dargestellte deckt sich nicht mit dem Gewussten. Politisch brisant, aber auch schwierig darzustellen seien Tabellen über den Unterrichtsausfall. "Die Länder werden sich hüten, die Zahlen über den Unterrichtsausfall offen zu legen", sagt Heinz-Elmar Tenorth.
Der neue Bildungsbericht verzichtet auf Empfehlungen und Wertungen. Die Indikatoren müssen an internationale Studien anschlussfähig sein. Quellen des Bildungsberichts sind internationale und nationale Organisationen wie die OECD, Eurostat oder das BMBF, aber auch andere wissenschaftliche Studien. Sie schließen also an die Ergebnisse internationaler Studien wie TIMSS, PISA und IGLU an und münden in eine eigenständige problemorientierte Darstellung ein. 

Benachteiligung sozial schwächerer Schüler birgt sozialen Sprengstoff
Die Gewerkschaften reagieren prompt und warnen davor, dass sich durch die Ungleichheit bei der Teilhabe an Bildung sozialer Sprengstoff aufbaue. "Der nationale Bildungsbericht bestätigt, dass die Bildungsbeteiligung sehr an die soziale und ethnische Herkunft der Kinder und Jugendlichen gebunden ist", so Ludwig Eckinger, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Als Kur schlägt der VBE eine "nationale Bildungsstrategie" vor, die nicht den Ländern allein die Hoheit über Schulen und Hochschulen überlasse. 

"Ein Zurück in die Kleinstaaterei macht vor allem den Bildungsbereich zum Verlierer", sagt Ludwig Eckinger, der die Realisierung der im Grundgesetzt vorgeschriebenen "gleichwertigen Lebensverhältnisse" auch in der Bildung anmahnt. Bereits im ersten Bildungsbericht seien die ungleichen Startbedingungen mit der "unterschiedlichen ökonomischen Kraft der einzelnen Bundesländer" kritisch beurteilt worden. Die sieben Handlungsfelder, auf die sich die KMK nach dem ersten PISA-Schock geeinigt hatte, gehen dem VBE nicht weit genug. Bei der anstehenden Föderalismusreform dürfe die verfassungsrechtlich garantierte Rahmenkompetenz des Bundes nicht über Bord geworfen werden.

Die Wirtschaft hebt die gedeihliche Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Entwicklung des nationalen Bildungsberichts hervor und appelliert an beide, auch bei den anstehenden Bildungsreformen auf "unnötige Reibungsverluste und Kompetenzgerangel" im Sinne des Standortes Deutschland zu verzichten. Als wichtigste Therapieschritte sieht der Arbeitgeberpräsident: Die Integration von zugewanderten Kindern und Jugendlichen durch Kindergärten und Schulen, die Durchsetzung von Bildungsstandards in den Schulen und die Beschleunigung der Bachelor- und Masterstudienreform, um ein praxisorientiertes Studium zu ermöglichen.  

Gemeinsamkeit bei den Bildungsreformen, statt Profilierung starker Länder zu Lasten der schwächeren fordert auch der Bundeselternrat. Er wünscht sich eine stärkere gemeinsame Verantwortung von Ländern und Bund: "Wir brauchen nicht 16 verschiedene Lehrpläne, 16 unterschiedliche Schulstrukturen oder eine Vielfalt unterschiedlicher Abschlusszeugnisse, sondern eine gemeinsame Verständigung über die Inhalte von Bildung und Erziehung", so Wilfried Steinert, Vorsitzender des Bundeselternrates. 

Die Ellbogenmentalität und die Phantasielosigkeit, die in vielen Schulen, Hochschulen und Betrieben grassiert, ist ein Ausdruck für die Mittelmäßigkeit, in der Deutschland befangen ist. Von nun an steht die Fähigkeit von Bund und Ländern zu kooperieren genauso auf dem Prüfstand wie die Leistungen der einzelnen Lehrkräfte und Schüler. Miteinander und nicht Gegeneinander macht das Lernen Freude und bringt langfristig volkswirtschaftlich und schulisch mehr Erträge. 

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 06.06.2006
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